Im Dokufiktionsroman «Türwächer:innen der Freiheit» von Maike Plath erzählt sie ihre und unsere Geschichte. Das Buch ist überall im Buchhandel erhältlich oder als kostenfreies Hörbuch auf allen bekannten Podcastplattformen.

Serhat*

Er wurde in der Schule nur als störend wahrgenommen. Er hatte innerhalb seiner Schullaufbahn 7 Klassenkonferenzen. Er hat 5 Jahre mit uns Theater gespielt. Als er einmal alte Filmaufnahmen von sich mit 12 Jahren bei der Probe sieht, schüttelt er nur den Kopf und fragt: «Wie habt ihr mich bloß ausgehalten?» Später hat er seine Ausbildung zum Krankenpfleger mit der Note 1 abgeschlossen. Mittlerweile arbeitet er am Berliner Flughafen und ist ein hochgeschätzter Mitarbeiter mit interkultureller Kompetenz. Eine Gabe, um die ihn viele Kollegen beneiden.

Samira*

Samira kommt 2014 zum ersten Mal zur Probe. Sie ist sehr zurückhaltend, still, nimmt kaum Kontakt zu den anderen auf. Beim ersten Warm-up setzt sie sich gleich an den Rand, sagt leise zu mir: „Ich will nicht, dass die anderen mich anfassen“. Ich sage: „Das ist völlig in Ordnung, Samira. Ich kann denen einfach sagen, dass du das nicht möchtest, das wird absolut respektiert, keine Sorge. Oder möchtest du das selber sagen?“

Samira überlegt und entscheidet sich dann, es selbst zu sagen. Die anderen nicken, ok. Keiner macht blöde Bemerkungen. Alle wissen, dass ihre eigenen Wünsche auch respektiert werden.

Aber ein paar Wochen später fehlt Samira. Ich bekomme einen Anruf von den Eltern. Samira gehe es schlecht. Sie müsse erstmal in Behandlung und werde wohl erstmal nicht mehr zu den Proben kommen. Sie habe erzählt, dass es schön gewesen sei bei den Proben – und ob sie nicht im nächsten Jahr einsteigen könne? Ich sage: „Ja, selbstverständlich. Wir freuen uns, wenn Samira wieder kommt.“

Ein Jahr später beginnt ein neues Projekt. Samira ist dabei. Sie ist sehr ruhig, hält sich zurück, spricht nur wenig, setzt sich oft an den Rand. Alle akzeptieren das, ermutigen sie vorsichtig, respektieren ihre Grenzen. Nach ein paar Wochen erzählt Samira vom vergangenen Jahr und was alles passiert ist. Sie schreibt Texte dazu. Aus einem dieser Texte entwickelt sie selbst eine Szene und macht deutlich, dass sie selbst den Text geschrieben hat. Die Szene findet Eingang in das Stück. Während Samira Regie führt, wird sie sicherer, sagt den anderen, wie sie denkt, wie es sein muss. Sie trifft Entscheidungen, erklärt, was sie meint, wie sie sich gefühlt hat, welche Bilder sie entwickeln möchte. Es wird eine großartige Szene. Die anderen sind beeindruckt.

Von Probe zu Probe wird Samira offener, fröhlicher, vertrauensvoller. Ihre Szene wird gefeiert. Jetzt erlaubt sie unserer Fotografin auch immer häufiger, sie zu fotografieren, findet ihre Fotos nicht mehr peinlich – sondern schön.

Kurz vor der Premiere sitzen wir draußen vor dem Heimathafen. Samira kommt dazu. Sie lacht und umarmt die anderen zur Begrüßung. Wir trauen unseren Augen nicht. Die anderen sagen: Guck mal, Samira wird immer schöner. Das stimmt. Sie schminkt sich jetzt ein bisschen, ihre Augen strahlen, sie tanzt alleine und ausgelassen auf der Bühne – angefeuert von allen anderen.

Nach der Premiere fallen sich alle in die Arme. Und Samira ist mitten drin. Ihre Fotos sind auf dieser Seite und wenn man sie mit denen von vor einem Jahr vergleicht, kann man sie kaum wieder erkennen: Samira steht aufrecht und strahlend auf der Bühne. Wer sie sieht, dem ist klar: Sie ist eine Königin.

Nico*

Als berührendes Beispiel für zahlreiche ähnliche Entwicklungen: Ein Spieler, ich nenne ihn hier Nico, kommt zu mir und sagt leise:
«M. kann sehr gut singen.»
Ich: «Oh, das ist ja super! Meinst du, er könnte hier in der Probe mal singen?»
Nico: «Ne…, er traut sich nicht. Er singt nur alleine zu Hause.»
Ich: «Weißt du denn, welches Lied er singen könnte?»
Nico: «Ja.»
Ich: «Welches denn?»
Nico: «Ich kann es dir aufschreiben.» (Er schreibt es mir auf einen Zettel. Ich lade es bei iTunes runter).

In der nächsten Probe bringen wir die Liedtexte mit und teilen sie aus. Die ganze Klasse singt zusammen im Kreis das besagte Lied. Ich gebe M. ein Mikro und frage ihn, ob er nicht Lust hat, ins Mikro zu singen – alle anderen singen ja mit. M. schüttelt den Kopf. Nein.

Ich: «Du musst ja nicht ins Mikro singen. Sing einfach so mit. Aber du kannst das Mikro ja fest halten. Vielleicht probierst du es einfach zwischendurch mal, kurz rein zu singen.»

M.: «Nein.» (Aber er nimmt das Mikro).

Wir singen weiter zusammen. M. liegt auf dem Bauch auf dem Boden, das Mikro in der Hand. Langsam führt er das Mikro an den Mund, singt kurz hinein, zuckt zusammen, reißt das Mikro wieder weg. Keiner beachtet ihn. Alle singen. M. macht einen erneuten Versuch. Und immer wieder weitere. Irgendwann hören alle seine Stimme. Er singt ins Mikro.

In der darauf folgenden Probe verfahren wir genauso. Alles wiederholt sich genau wie beim letzten Mal. Aber dann richtet sich M. auf und singt laut und sehr schön ins Mikro. Einige Spieler*innen schlagen vor, dass er aufstehen soll und die Klasse sich – «wie in einem Musikvideo» – hinter ihm aufbaut. Gesagt getan. Zur Instrumental-Version des Liedes singt M. nun mit lauter, sauberer, klarer Stimme ins Mikro. Hinter ihm stehen die anderen 23 Mitschüler*innen in einem geordneten Block. Plötzlich fangen einige Schüler*innen an zu weinen. Entsetzt frage ich: Was ist los? Die für mich völlig verblüffende Antwort lautet: «Das ist so schön».

Aus der beschriebenen Situation entwickelt die Klasse die Schluss-Szene ihres Stücks. Für die Klasse ist es «die beste Szene zum Thema Liebe» – und deswegen stellen sie diese an den Schluss ihrer Präsentation.

*Name geändert

«Wir wollen, dass unser Stück mit der Liebe endet, weil – das wäre das Schönste.»

Erva, Name geändert

Wir können unendlich viele solcher Geschichten erzählen. Helfen Sie uns, dass es immer mehr werden. Spenden Sie jetzt!